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... griff nach seiner Jacke. Wenn er das Päckchen gleich noch zur Post brachte,
würde es rechtzeitig zum Geburtstag ankommen. Oma’s Sechzigster ist erst am Donnerstag.
Mitten in der Woche. Das war nicht zu schaffen. Tim ging nach der Schule zum Schwimmen. Sam war auf Klassenfahrt. Und Mutti konnte schon lange nicht mehr
einfach so frei haben. Ob mit oder ohne Omas Geburtstag. Diese blöde neue Klinik !
Sie ist der reinste Sklavenmarkt !

Aber das konnte man mit Oma nicht bereden. Für sie waren das alles Ausreden:
„Opa hat vierzig Jahre seine Praxis gehabt, und er war immer für die Familie da.“
Kunststück. Er hatte Oma. Auch, wenn sie ein schwaches Herz hatte und ständig irgendwelche Pillen nahm. Sie kümmerte sich um die zwei Kinder, das große Haus,
wuselte ständig im Garten rum. 
Eigentlich konnte Tim sich an sie nur in ihrer hellblauen Leinenschürze mit dem weißen Spitzenrand erinnern. Ständig auf dem Sprung,
weil irgendein Kaffee gerade durchgelaufen war, ein Kuchen aus dem Ofen wollte
oder ganz bestimmt etwas weggefegt oder aufgewischt werden musste.

Und dabei plapperte sie ununterbrochen auf einen ein: Dass Tim seine Zeit besser einteilen sollte, und wie er im Sport nicht so richtig voran kam. Dass Sam sich nur für ihre Haare interessierte, und viel zu kurze Röcke trägt. Dass Mutti mit dem Geld nicht zurechtkam, keine Zeit für die Familie hätte und drei Jahre Trauer nun auch wohl genug wären. Sie solle sich endlich einen tüchtigen Mann suchen. Einen, der auch mal mit anpacke.

Tränen traten ihm in die Augen, wenn er daran dachte. 
Sie waren schon einmal eine glückliche Familie gewesen. Samantha und Timothy, Mutti und Papa. Sie waren voller Leben. Und konnten so herzlich lachen. Es war die beste Zeit, an die sich Tim erinnern konnte. Auch, wenn es Papa nicht gelungen war, mit seiner Musik das ganz große Geld zu verdienen. 

Und Tim hasste den Tag, als Papa nachts von einer Mugge heim wollte. Onkel Jens
hatte ihn mit dem Auto abgeholt. Konnte ja keiner ahnen, dass die beiden
dem Geisterfahrer in die Arme rasen. Alle drei waren auf der Stelle tot.

Mutti hatte sich von dem Schmerz bis heute nicht erholt. Sie dachte nicht im Traum
an einen neuen Mann. 
Erst stürzte sie sich in die Arbeit, um das Weinen zu vergessen.
Aber inzwischen fraß die Klinik sie auf. Ließ ihr kaum noch Luft zum Atmen, kaum freie Zeit für ihre kleine Familie. Manche Tage sahen sie sich überhaupt nicht.
Informationen tauschten sie über gelbe Klebezettel aus. Der ganze Kühlschrank war übersät davon. Fast schien es Tim, als wollte ihm das Leben seine Mutti auch noch wegnehmen. 

Und Oma nervte. Sie rief jeden Abend an. 

Und nie war Geld im Haus. Nicht mal die neuen Sneaker waren drin. Sie mussten immer gut planen. Sie hatten kein feines Häuschen am Stadtrand, mit Obstbäumen und Spielrasen. 
Keine kleine Familienpraxis. Nicht mal einen anständigen Wagen.
Mutti‘s blöde Blechbeule gehörte schon lange auf den Müll.

Und da hatte Oma schon wieder angerufen. Was denn nun mit ihrem Geburtstag sei.
Es wäre doch das mindeste, dass sich die Familie … 

Oma hatte lange genug mit Dreck gespritzt. Soll sie sich doch mit ihrem Päckchen
in ihren schönen Garten setzen. Da half ihr keine Schürze und kein Putzen mehr,
der Ekel würde ihr beim Öffnen direkt ins Gesicht springen. Und sie zu Tode erschrecken. 

Er hatte etwas Futter in die Kiste gepackt, und hoffte, die Ratte
würde am Donnerstag noch fit genug sein ...