Der Eisbär am Ostseestrand
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Neunzehn Jahre ist sie 1956 auf diesem Bild – Karin. 1962 wird sie mich zur Welt bringen.
Aber das kann sie sich in diesem Sommer auf Rügen noch gar nicht vorstellen.

Gertenschlank ist sie. Tanzt bei Seiferts in wolkengleichen Kleidern übers Parkett.
Gerade hat sie eine Lehre als Schneiderin in Leipzig beendet.
Und nun große Pläne: Schön sollen die Dinge sein, die sie künftig umgeben. Jung. Modern. Lebensfroh.
Noch vor wenigen Jahren, im Dezember 1943, ist sie mit dem kleinen Bruder und Mutter Hilde an der Hand
durch das brennende Leipzig um ihr Leben gerannt. Wenig ist geblieben von dem, was bis dahin wichtig war.
Zu der Zeit fieberte in Vater Alfred vor Stalingrad der Typhus und er muss mit dem Ende gerechnet haben.
Kein Verabschieden. Kein letzter Brief. Aber das erfahren die drei erst viele Monate und viele Suchmeldungen später.
Einstweilen finden sie Schutz und Geborgenheit auf dem Sächsischen Königstein. Bei einer Freundin von Mutter Hilde.
Der Wald. Die Festung. Die Berge. Abenteuerland für verängstigte Großstadtkinder.
Die Cousinen kennen sich aus im Wald – sammeln Beeren, Pilze, Holz ...  Für wenige Monate scheint Krieg weit weg.
Bis die Russen kommen ...
Die drei fahren nach Kriegsende zurück nach Leipzig. Wollen zu Hause sein, wenn der Vater von der Front heimkehrt.
Das ist jetzt über zehn Jahre her. Inzwischen haben sie Gewissheit. Aber auch neuen Lebensmut.
Jetzt kommt das richtige Leben!
Zumindest erst einmal ein toller erster Ostseeurlaub. Endlich an das große Wasser. Sonne auf der Haut fühlen.
Sich den Wind um die Nase wehen lassen. Fern aller mütterlichen Fürsorge und der Regelmäßigkeiten des Berufsalltages.
Und – warum nicht - die Blicke junger Männer spüren ... Aber es sollte ganz anders kommen.
Denn was da am Strand auf sie zukam, war total unerwartet - ein Eisbär!
Und gleich hinterher ein Fotograf, der zielgenau auf die junge Frau zusteuert.
Erst Minuten später stellt sich heraus, dass die Bitterlings – Vater und Sohn Horst – mit diesem sensationellen Auftritt Urlauberinnen vor die Kamera locken wollten. Schon 1935 hatte diese Idee am Göhrener Strand auf Rügen
für ordentlich Aufmerksamkeit gesorgt. Die Kasse klingelte.
Der ganz sicher schweißtreibende Part des Juniors wurde von den strahlenden Augen der Abgelichteten belohnt.
Warum er als Eisbär jedoch ausgerechnet unter dem Künstlernamen „SuSi“ agierte, erschließt sich mir bis heute nicht.
Fest aber steht, dass während des Urlaubs Muttis Foto als besonders gelungen im Schaufenster des Fotostudios hing
und von ihr jeden Tag heimlich besucht wurde. 
Und es hatte jahrelang einen besonderen Platz im Familienalbum.
Auch heute.